Übersicht
Schulhaus Obergasse, Zizers
Mit Fahrenden auf Tuchfühlung
"Wir suchen nach Wegen, damit die Vorurteile unserem Volk gegenüber verschwinden", sagt der Fahrende Silvio Gruber, der in Chur ein Begegnungszentrum für Sesshafte und Fahrende initiierte. Solche Vorurteile abbauen wollte auch Kleinklassenlehrer Reto Schaub und zwar in Zizers. Dort schlagen Fahrende all Winters ihr Domizil auf, schicken ihre Kinder sporadisch in die Schule. Zwischen den ansässigen SchülerInnen und den "Anderen" sind Spannungen programmiert. Mit einem Tag der Begegnung auf dem Pausenhof wollten Schaub und Gruber Verständnis schaffen - für das Leben, die Kultur und Rechte einer kulturellen Minderheit.
Die Initialzündung
Vorurteile und Diskriminierungen vor der Haustüre gaben Anlass für ein besonderes Begegnungsprojekt. Familien von Fahrenden lassen sich stets während der kalten Jahreszeit in Zizers nieder. Ihre Kinder besuchen dann diverse Stufen des Schulhauses Obergasse. Auffällig sind diese Kinder, anders: So scheint es jedenfalls. Sie sprechen eine andere Sprache, kleiden sich unüblich, haben starke familiäre Bande, fehlen häufig in der Schule, müssen sich dafür noch nicht einmal entschuldigen. Unverständnis, Misstrauen, teils Missgunst seitens einiger sesshafter SchülerInnen und Eltern machten eine Auseinandersetzung in der Schule zu Themen wie Rassismus, Herkunft und Menschenrechte notwendig. Als einer der fahrenden SchülerInnen während des Unterrichts zufällig von seiner Mutter erzählte, die auf dem Lagerplatz singe, und von Silvio Gruber, welcher "schöne Bilder über ihr Leben male", nutzte LehrerInnen Reto Schaub die Gunst der Stunde. Er lud beide Fahrende in die Klasse ein. Das Interesse der sesshaften SchülerInnen war gross, das Mitteilungsbedürfnis der Fahrenden ebenso. Der erste Schritt hin zu weiteren Begegnungen in grösserem Rahmen war getan.

Die Ziele
Zigeuner stehlen, sind dumm, können nicht lesen, bezahlen keine Steuern, lassen ihre Kinder verwahrlosen und fahren protzige Autos. Auf Standplätzen hinterlassen sie nur Unrat. Rassistische Vorurteile wie diese sind keine Seltenheit bei sesshaften SchweizerInnen. Jedoch: "Jeder Mensch hat Anspruch auf Rechte und Freiheiten ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler und sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen". Vor dem Hintergrund des zweiten Artikels der Allgemeinen Erklärung des Menschenrechte wollten die LehrerInnen über ein ungezwungenes Kennenlernen vorurteilsbedingte Barrieren abbauen. Der theoretische Unterricht über Rassismus und Menschenrechte erhielt durch den Begegnungstag eine reale Komponente, die nach erlebten Erkenntnissen bei SchülerInnen und Eltern zu differenzierterem Verhalten führen sollte.

Die Anwärmphase
Es war an einem Elternabend der Schule, an dem "grünes Licht" für die organisierte Begegnung zwischen Sesshaften und Fahrenden gesprochen wurde. Als Projektleitungsteam wurde eine gemischte Gruppe aus zwei Lehrpersonen, dem ehemaligen Gemeindepräsidenten, einem Schulratsmitglied, einem Journalisten, Eltern, SchülerInnen und Fahrenden eingesetzt. Ein viertel Jahr dauerten die Vorarbeiten. Der Projektablauf, die Projektorganisation und -verantwortlichkeiten wurden in vier Sitzungen schriftlich festgelegt, das Gesuch für die Nutzung des Schulareals bei der Gemeinde eingereicht. Der Begegnungstag sollte an einem schulfreien Samstag stattfinden, der Pausenhof dafür als Standplatz für Fahrende umgestaltet werden. Silvio Gruber oblag die Koordination auf Seite der Fahrenden. Die vorbereitende Vermittlung von Hintergrundwissen über Tradition, Kultur, Musik, Sprache etc. der Fahrenden fand klassen-, stufen- und fächerübergreifend im Realien-/-, bzw. im Mensch- und Umwelt-, sowie dem Religionsunterricht statt. Zudem wurden die SchülerInnen in die gesamte Vorbereitungszeit aktiv einbezogen: Sie gestalteten und verteilten Plakate, schrieben und verschickten Einladungen, verfassten Medienartikel, stellten Stände auf und gestalteten das Schulhausareal um. Ein Medienapéro wurde organisiert und T-Shirts für das OK bedruckt.

Die Umsetzung
Gross war das Engagement gewesen, bis der samstägliche Projekttag vor der Tür stand. Zur Begegnung zwischen Fahrenden und Sesshaften wurde von 10 bis 20 Uhr geladen. Und was bis anhin als Pausenhof durchgegangen war, glich nun einem bunten Markplatz mit Ständen, Musik und Vorführungen. Zigeuner aus verschiedenen Teilen der Schweiz, die von den Zizerser Fahrenden eingeladen wurde, zeigten ihre Handwerkskünste. Scheren wurden geschliffen, Schirme geflickt, Körbe geflochten, aus der Hand gelesen, gemeinsam gesungen. Am offenen Lagerfeuer wurde gekocht und über die besondere Bedeutung des Lagerfeuers für die Fahrenden erzählt. Sitten und Gebräuche, Sprache und Geschichte der Menschen, welche bewusst ein Leben ausserhalb der gängigen Gesellschaftsnorm führen, sorgten für Gesprächsstoff. Der 70jährige Gaukler und Wahrsager Arno Black (BL) war dabei, ebenso Silvio Gruber mit einer Ausstellung seiner Impressionen vom Leben der Fahrenden. Die Zizerser Zigeunerin Nuni, Mutter vierer Kinder, die das Schulhaus Obergasse zeitweise besuchen, präsentierte gemeinsam mit dem Churer Liedermacher Walter Lietha ihre neue CD. Die Abbauarbeiten am Ende des "Familientages" wurden gemeinsam geleistet.

Die Nacharbeit zum Projekttag fand auf verschiedenen Ebenen statt:

  • Fahrende: In anschliessenden Gesprächen, in denen man zum Schluss kam, die Zusammenarbeit zu pflegen.
  • Schule: In der Schülerzeitung "Juniörli", im Klassenverband und im Lehrerteam
  • Didaktische/methodische Aufarbeitung: 32-Seiten-Beitrag im "Bündner Schulblatt Mai 03"
  • Medien: Alle grossen und lokalen Bündner Medien (Tageszeitungen, Amts- und Dorfblätter, Radio und TV) berichteten über den Projekttag

Die Kreativen
Eine gemischte Gruppe aus zwei Lehrpersonen, Eltern, Fahrenden, Schüler/innen, einem Schulratsvertreter, einem Medienvertreter und dem ehemaligen Gemeindepräsidenten organisierten und koordinierten den Projekttag. Fahrende aus verschiedenen Teilen der Schweiz waren dabei (die eine kleine Entschädigung und Reisespesen erhielten).

Die Adressaten
500 Kinder und Jugendliche vom Kindergarten bis zur Oberstufe nahmen am Projekttag teil. Zudem galten die Einladungen allen LehrerInnen, Familien, der gesamten Dorfgemeinschaft Zizers und deren Umgebung. Ferner wurden eingeladen und durch den Beitrag im "Bündner Schulblatt" informiert: Familien und LehrerInnen aus dem Bündner Rheintal und der Stadt Chur. Über die starke Medienpräsenz gelangte die Projektinformation weit über den Kanton Graubünden hinaus.

Die Bilanz
"Mit Befriedigung durften wir nach der Durchführung dieses Begegnungstages zur Kenntnis nehmen, mit dieser Aktion bei Jung und Alt einen Teil der Vorurteile gegen die Fahrenden abgebaut zu haben", so Reto Schaub im "Bündner Schulblatt". Man wollte die Chance wahrnehmen, Sesshafte und Fahrende einander näher zu bringen, Verständnis füreinander zu wecken und den Kindern eine vom Verschwinden bedrohte Kultur in aktiver Auseinandersetzung vorzustellen. Das grosse Interesse der Gäste und der Medien zeigt, dass die Chance genutzt wurde. Sätze, wie folgender, zu Beginn des Tages von einem Jugendlichen formuliert, hörte man am Abend nicht mehr: "Die einzig liebe Zigeunerin ist Esmeralda aus dem Disney-Film `Der Glöckner von Notre Dame´." Die intensive, gemeinsame Erarbeitung des Projekts wurde als eine lohnende Bereicherung für alle Beteiligten bewertet. Der Nachahmungseffekt ist bereits gross.

Die Finanzen

  • Gesamtkosten: 6'100 Franken
  • Schulfonds, Stiftung Bildung und Entwicklung: 6'100 Franken

Noch ein paar Tipps

  • Die Begegnung mit Fahrenden hat davon profitiert, dass in einem schlagkräftigen, kleinen und gemischten Organisationsteam gearbeitet wurde. Erfahrene Macher und Neulinge haben in wenigen, aber gut vorbereiteten Arbeitssitzungen zielgerichtet gearbeitet.
  • In die intensive gemeinsame Vorbereitungszeit unbedingt SchülerInnen mit einbeziehen.
  • Wichtig: Mit dem LehrerInnenteam, den Eltern und Gemeindebehörden rechtzeitig alles besprechen und schriftliche Absprachen treffen.
  • Zuständigkeiten und Verantwortungsbereiche klar regeln.
  • Finanzierung sicherstellen.

Kontakt
Reto Schaub und Dominik Sax, Schulhaus Obergasse, 7205 Zizers, Telefon 081 322 11 65

 
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