Übersicht
Sekundarschule Béthusy, Lausanne
Ich bin jener andere – Je suis cet autre
Zu den Zielvorgaben für die Klassen des 8. und 9. Schuljahres der allgemein bildenden Waadtländer Schule gehört die Durchführung eines inter-disziplinären Projektes während eines ganzen Semesters. Zwei Wochen-stunden sind dafür im Stundenplan vorgesehen. Im Rahmen einer Ausbildung hatte Carine Kolb, Französischlehrerin an der Lausanner Sekundarschule Béthusy, die verschiedenen Aspekte der anti-rassistischen Pädagogik vertieft. Überzeugt von der Wichtigkeit, die Präventions-arbeit an Schulen zu fördern, packte sie die Möglichkeit des interdisziplinären Projekts beim Schopf und hob gemeinsam mit einer Berufskollegin «Je suis cet autre» aus der Taufe: Ein Theaterstück, das vor über 300 SchülerInnen aufgeführt wurde und eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus in die Wege leitete.
Die Initialzündung
Im Februar 2003 nahm Carine Kolb, Französischlehrerin am Collège Béthusy, an einem Universitätslehrgang über Menschenrechte teil. Die bereits für das Thema Rassismus sensibilisierte Lehrerin lernte dabei pädagogische Mittel kennen, die sie – gemeinsam mit ihren SchülerInnen – zu Präventionszwecken einsetzen wollte. Das, laut Lehrplan, während des Schuljahres durchzuführende interdiszi-pli-näre Projekt erwies sich als geeigneter Rahmen, und Carine Kolb schlug einer Berufskollegin, der Lehrerin für Gestaltung, eine Zusammen-arbeit vor. Die beiden Frauen setzten sich mit Begeisterung für ein Projekt ein, das gleichzeitig die französische Sprache, den kreativen Ausdruck sowie Überlegungen und den Gedankenaustausch zum Thema «Rassismus und Menschenrechte» umfasste und letztlich in der von einem Berufsschauspieler begleiteten Aufführung mündete.

Die Ziele
Viel hatten sich die Lehrerinnen vorgenommen. So sollten die SchülerInnen im Rahmen des Projektes ihr Wissen über Rassismus (geschichtliche Hintergründe, äusserer Kontext, sichtbare Erscheinungen usw.) und Menschenrechte erweitern, thematische Zusammenhänge erörtern, die sie direkt betreffen und für ein Engagement im eigenen spezifischen Umfeld motiviert werden. Darüber hinaus sollten sie erfahren, welche Mittel sie im Kampf gegen Diskriminierung und für die Förderung der Menschenrechte einsetzen können. Das Stück «Je suis cet autre» sollte als Ergebnis des Projekts auch in andern Klassen aufgeführt werden, um so ein vertieftes Bewusstsein in der Schule zu verankern. Auch die Eltern wurden miteinbezogen und sollten an den Aufführungen teilnehmen. Denn: Im Sinne der Nachhaltigkeit war es den Lehrerinnen wichtig, dass die SchülerInnen den zwischen ihnen begonnenen Dialog auch in den Familien weiterpflegten.

Die Anwärmphase
In einem ersten Schritt bestimmten die beiden zuständigen Lehrerinnen das Vorgehen beim interdisziplinären Projekt. Das von den Erwachsenen ausgewählte Thema «Rassismus und Menschenrechte» sollte in die Französisch- und in die Gestaltungs-lektionen einfliessen. Ursprünglich war folgende Aufteilung vorgesehen:

  • Französisch: Informationsrecherche, Vorträge, Exposés, schriftliche Arbeiten, Verfassen eines Skripts.
  • Gestaltung: künstlerischer Ausdruck als Hilfe bei der Fragestellung bezüglich Identität (z.B. anhand von Skulpturen).

Sehr schnell wurde klar, dass für die Erarbeitung einer Darbietung als Projektabschluss die professionelle Unter-stützung durch einen Schauspieler nötig war. Sein Beitrag machte es letztlich möglich, das Profil der SchülerInnen sowie ihre individuellen Talente zu erfassen und ihre Botschaften zu übermitteln.

Die Umsetzung
Parallel zum eigentlichen interdisziplinären Theaterprojekt näherten sich die SchülerInnen drei Monate lang auf vielfältige Weise den Themen Rassismus und Menschenrechte an. Als Einstieg wurde der Roman «Inconnu à cet adresse» («Address Unknown», «Adressat unbekannt», 1938) von Katherine Kressmann Taylor gelesen. Anhand eines fiktiven Briefwechsels zwischen den befreundeten Galeristen Martin (ein in sein Heimatland zurückgekehrter Deutscher) und Max (ein in Kalifornien wohnhafter Amerikaner jüdischer Herkunft) werden darin die Schoah-Thematik sowie Diskriminierung und Rassismus präzise und einfühlsam angegangen. Danach stellten die einzelnen SchülerInnen in Exposés jeweils einen Roman mit zum Thema Rassismus und Menschenrechte vor. Ende März füllten sämtliche SchülerInnen einen Fragebogen über Rassismus aus. Dieser ermöglichte den Lehrpersonen eine Einschätzung des von ihren SchülerInnen angeeigneten Wissens (Ursachen und Manifestationen von Rassismus, Mittel zur Bekämpfung von Rassismus).

Interdisziplinäres Projekt (Januar – Juni)

  • Allgemeines Konzept für die Theateraufführung.
  • Erarbeitung des Skripts, das sowohl Texte von SchülerInnen als auch von Autoren (Jacquard, Péguy, Diop usw.) umfasst.
  • Gestalterischer Ansatz. Es wurde beschlossen, für die Aufführung Masken herzustellen. Alle SchülerInnen kreierten eine Maske, ausgehend von einem Gipsabdruck ihres eigenen Gesichts.
  • Schauspielerischer Ansatz und Inszenierung. Die individuellen Fähigkeiten und Talente (musikalisches Können, Muttersprachen) wurden evaluiert.
  • Drei Tage intensive Vorbereitung in einem Chalet in den Bergen unter der Leitung der 3 zuständigen Erwachsenen (zwei Lehrerinnen, ein Schauspieler).
  • Wöchentliche Sitzungen, an denen die beiden Lehrerinnen und der Schauspieler jeweils eine Zwischenbilanz ziehen.

    Organisation der Vorstellung:
  • Bekanntmachung der Aufführung (Rundschreiben an Eltern und Lehrpersonal, Plakate).
  • Treffen mit dem Lehrpersonal der Schule, Projektvorstellung und Einladung an die LehrerInnen, mit ihren Klassen an den Vorführungen teilzunehmen. Die Interessierten waren bereit, mit ihren SchülerInnen die Überlegungen und Diskussionen zum Thema auch nach der Aufführung fortzusetzen.
  • Drei Vorstellungen an der eigenen Schule mit anschliessender Diskussion in der Klasse (d.h. 350 SchülerInnen zwischen 10 und 16 Jahren).
  • Eine öffentliche Vorstellung für Eltern und Freunde, eine an der Sekundarschule von Prilly (auf deren Anfrage) und eine öffentliche Vorstellung anlässlich des Flüchtlingstags auf Anfrage der soziokulturellen Vereinigung Pôle Sud.

    Parallel dazu erfolgten weitere Aktivitäten:
  • Ausstellung der von den Jugendlichen geschaffenen Plakate (zwei pro SchülerIn) im Theatersaal.
  • Die von den SchülerInnen verfassten Texte wurden als Sammelband herausgegeben und an alle verteilt.

Die Kreativen
Das Projekt stand unter der Leitung von Carine Kolb (Klassenlehrerin, Französischlehrerin) und Pascale Marie d’Avigneau (Lehrerin für Gestaltung). Ein Semester lang begleiteten die beiden ihre SchülerInnen während zwei Stunden pro Woche (d.h. mindestens 25 wöchentliche Sitzungen) und verfolgten dabei ihre spezifischen Zielsetzungen. Die Tätigkeit von Gilbert Divorne, Berufsschauspieler, richtete sich ausschliesslich auf die Umsetzungsarbeit (Szenografie, Inszenierung, schauspielerischer Ausdruck). Während des gesamten Projekts trafen sich die drei Beteiligten zu wöchentlichen Besprechungen, aus denen sich sinnvolle Anpassungen (Neudefinition der Ziele und fortlaufende Evaluation) ergaben.

Die Adressaten
Die 22 SchülerInnen der Klasse 8VSG1 bildeten das primäre Zielpublikum des Projekts. Zusätzlich visierte dieses auch deren Eltern an (die allesamt bei der Theateraufführung anwesend waren) sowie die SchülerInnen der andern Klassen und ihre LehrerInnen.

Die Bilanz
Das Lehrpersonal zog aus dem Experiment eine sehr positive Bilanz: Entstanden war ein Theaterstück von 45 Minuten Dauer, hinzu kamen zusätzliche Vorstellungen. Das Maskenbilden hat sich als wertvolle Erfahrung erwiesen und ein Fokussieren auf Fragen der Identität und der Beziehungen zum andern ermöglicht. Trotz Umfang und Länge des Projekts waren die SchülerInnen davon begeistert. Der mit den öffentlichen Darbietungen erzielte Erfolg erstaunt denn auch nicht: «Dieses Projekt hat mir sehr gefallen», berichtet eine Jugendliche, «auch wenn ich es nicht gezeigt habe. Ich empfand es als sehr wertvoll, denn es war eine Arbeit, bei der wir alle mitmachten, und dadurch konnte ich alle ein bisschen besser kennen lernen.» Ebenfalls positiv hervorgehoben wurde die grosse Aufmerksamkeit des Publikums während der Vorführungen und das Niveau des anschliessenden Gedankenaustauschs.

Die Finanzen

  • Gesamtkosten: 8’600 Franken
  • Schulfonds, Stiftung Bildung und Entwicklung: 5’200 Franken

Noch ein paar Tipps

  • Projekt möglichst auf ein ganzes Schuljahr auslegen, damit die SchülerInnen stärker in die Textrecherche und die Skripterarbeitung einbezogen werden können.
  • Als unerlässlich erwies sich die fast ständige Anwesenheit des Berufsschauspielers während der wöchentlichen interdisziplinären Arbeitssitzungen. Dies ist in der Budgetplanung zu berücksichtigen!
  • Nicht vergessen, dass eine derart langwierige Arbeit bei Jugendlichen zu Überdruss und manchmal zu lähmendem Verhalten führen kann (wenig Begeisterung fürs Proben, disziplinäre Probleme)!
  • Die Auswahl schwieriger Texte und genügend hohe Anforderungen haben sich sehr motivierend auf die SchülerInnen ausgewirkt.

Kontakt
Carine Kolb, Enseignante, Avenue Druey 32, 1018 Lausanne (Tel. 021 728 56 27)

 
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