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Monique Eckmann
Bildung gegen Rassismus, nicht gegen Rassisten
"Unsere Generation wird nicht so sehr die Untaten böser Menschen zu beklagen haben, als vielmehr das erschreckende Schweigen der guten. " (Martin Luther King, 1929-1968)

 

Rassismus ist nicht nur ein theoretisches oder geschichtliches Thema, sondern eine Alltagserfahrung: Wir alle waren schon Zeugen von Gewalttätigkeit oder Diskriminierung. Wenn das Thema Rassismus angesprochen wird, tauchen Erinnerungen in uns auf, wecken Unruhe: "Werde ich als Rassist angesehen?" Oder sie lösen Erleichterung aus: "Könnte ich erzählen, was mir zugestossen ist?" Oder es wird abgewehrt: "Ja, aber die andern tun das ja auch." Antirassistische Pädagogik trifft immer wieder auf Widerstände und Verleugnung und muss sich mit Banalisieren und Verharmlosen auseinandersetzen. PädagogInnen sollten sich im Klaren sein, an wen sie sich eigentlich richten.

 

Drei Positionen¨

Zentral für die antirassistische Pädagogik sind die sozialen Identitäten, die kollektiven Zugehörigkeiten sowie die eigenen Erfahrungen. Für Albert Memmi (1982) stellt Rassismus eine gemeinsam erlebte und geteilte Erfahrung von zwei sich gegenüberstehenden Akteuren dar, in einem bestimmten sozialen, historischen und institutionellen Kontext. Er schrieb über Täter und Opfer, Kolonialisierte und Kolonialisten oder Unterdrückern und Unterdrückten. Jedesmal handelt es sich um zwei entgegengesetzte Erfahrungen. Jedoch wird diese Gegenüberstellung von Opfern und Tätern dem Thema in seiner Komplexität nicht gerecht. Nach Raul Hilberg ist es notwendig, eine dritte Position oder Erfahrung hinzuzufügen. In seinem Werk über die Vernichtung der Juden in Europa (1992) unterscheidet er die Opfer, die Täter und die "bystanders", ein Begriff, der treffender als jener des Zeugen ist, da er die Personen bezeichnet, die daneben stehen und zuschauen. Jede Position stellt eine eigene Erfahrung mit Rassismus dar.

Die Opfer in ihrer Eigenschaft als Mitglieder einer diskriminierten Gruppe sind sich ihrem Verschiedensein und ihrer Verletzbarkeit bewusst; sie leben ständig mit der Angst vor Diskriminierung oder Vernichtung und sind damit dem Prozess von Machtverlust, des Disempowerments, ausgesetzt. Deshalb neigen sie gelegentlich dazu, alles durch den Filter dieser Erfahrung zu erklären und selbst gewisse Bedrohungen gedanklich vorwegzunehmen. Häufig besitzen sie weder Rechte noch die Macht, beispielsweise in einem Konflikt ihre eigene Sichtweise einzubringen. Wenn es darum geht, sich im sozialen Raum zu positionieren, sind sie oft die Benachteiligten. Dies kann zu einem Wettkampf zwischen den Opfern führen, wenn es um Anerkennung des zugefügten Unrechts geht.

Diese Opferrolle wird von den anderen, jedoch auch von den Betroffenen selbst, verinnerlicht, was auch ihre Identitäten prägt. Die Folge kann ein gewisser Stolz sein, sich eine diskriminierte Identität wieder angeeignet zu haben wie"black is beautiful". Sie kann aber auch bis zu Hass gegen sich oder gegen die eigene Gruppe führen.

Die Aggressoren wähnen sich häufig im guten Recht, weil sie überzeugt sind, dass die als unterlegen eingeschätzte Gruppe nicht die gleichen Rechte verdiene. Manchmal handeln sie auch unabsichtlich und unbewusst. Sie handeln diskriminierend, um Macht auf andere auszuüben. Sie streiten die Verantwortung ab oder schieben den Opfern die Schuld zu. Häufig betrachten sie sich selbst als Opfer und fühlen sich benachteiligt.

Da Rassismus eine nur schwer akzeptable Realität darstellt, leugnen ihn die Opfer oft genau so stark wie die Täter. Die "bystanders". Obwohl sie scheinbar am Konflikt unbeteiligt sind, sind sie auch Akteure. Diese mehr oder weniger passiven ZuschauerInnen, zu denen wir alle einmal gehören, stellen die grösste Gruppe dar. Sie haben eine wechselhafte, häufig inkonsistente Einstellung, die sich je nach Druck der Umwelt oder der Situation ändern kann. Sie haben oft Angst sich einzuschalten oder sich vor das Opfer zu stellen. Manchmal äussern eine Mischung von Ohnmacht und Mitgefühl für die Opfer. Mit ihrem Verhalten leisten die ZuschauerInnen häufig einen Beitrag zu den Geschehnissen, und sie tragen einen grossen Teil der Verantwortung.

Dabei ist ihre Rolle entscheidend: Wenn sie sich dem Rassismus dezidiert entgegenstellen oder ihn tolerieren oder gar unterstützen. Diese drei Positionen dürfen jedoch nicht essentialisiert werden, da sie vom jeweiligen Kontext abhängen. Je nach der historischen oder sozialen Situation kann sich eine Gruppe in einer anderen Position befinden. Sie sollen also nicht im Sinn einer starren Identität gehandhabt werden, sondern vielmehr als eine Erfahrung, die es zu anerkennen gilt.

 

Ziele antirassistischer Pädagogik

Nach Theodor W. Adorno (1966 und 97) brauchen wir nicht nur Erklärungen, sondern Handlungsmodelle und Strategien. Dies setzt eine Verknüpfung von kognitiven, emotionalen und praktischen Lernprozessen voraus, in denen die individuelle und kollektive Erfahrung eine zentrale Rolle spielt.

Eine Pädagogik gegen Rassismus ist also nicht nur gegen bestimmte Ideologien ausgerichtet, sondern muss auch zum Handeln anregen. Angestrebt werden vor allem Veränderungen der Einstellungen und des Verhaltens. Deshalb braucht es differenzierte Lernziele, die sich nach den unterschiedlichen Erfahrungen der Akteure richten:

  • Für die Opfer: Es ist unerlässlich, ihnen Gehör zu schenken, ihre Erfahrungen anzuerkennen und es ihnen zu ermöglichen, ihre Rechte und Würde wieder zu erlangen.
  • Für die Täter : Ihnen soll die Möglichkeit geboten werden, ihre Situation zu reflektieren, ihre Verantwortung zu erkennen und wahrzunehmen. Nur in extremen Fällen müssen sie aufs Gesetz hingewiesen werden.
  • Für die "bystanders": Sie sollen lernen, die Rolle der unbeteiligten ZuschauerInnen aufzugeben und der Diskriminierung aktiv Widerstand zu leisten. (Verweis auf Artikel Zivilcourage).

 

Das Dilemma der Macht und der Ohnmacht

Jeder Mensch muss eine persönliche Beziehung zum Thema Rassismus herstellen, denn jeder geht das Problem aus dem Blickwinkel seiner Erfahrung an. Bei Rassismus handelt es sich um Interaktionen zwischen Gruppen mit Machtdefizit und der Mehrheit. Beide Seiten verinnerlichen diese Positionen als Dominanz und Diskriminierung von Opfern und Tätern.

Die machtmässig überlegene Gruppe erlebt das Dilemma der Macht. Sie betrachtet ihre Identität und Kultur als selbstverständlich. Sie geniesst Privilegien, die sie nicht immer verlangt hat. Sie bezeichnet sich als gerecht und demokratisch. Machen die Minderheiten die Mehrheit auf deren Dominanz und diskriminierende Haltung aufmerksam, so ruft dies häufig Unbehagen hervor. Wenn sie sich schuldig fühlt, vermeidet sie Begegnungen mit Minderheiten, oder die Kontakte werden spannungsgeladen.

Die Minderheit lebt im Bewusstsein der Differenz. Sie wird durch die Mehrheit definiert oder ausgegrenzt und ist sich gewohnt, das sie sich rechtfertigen muss. Der Blick der anderen wird mit Beschämung oder einem wagen Schuldgefühl verinnerlicht oder mit einem gewissen Stolz. Dies kann bis zur Annahme der Opferrolle gehen. Die Minderheiten erfahren oft das Dilemma der Ohnmacht, schwanken zwischen dem Wunsch nach Empörung und dem nach Unterwerfung. Weil beide Verhalten nicht zu einer wirklichen Veränderung der Situation führen, kann die Wut über diese Machtlosigkeit überhand nehmen.

Minderheit und Mehrheit erleben nicht dasselbe. Wenn sie sich zunächst mit der eigenen Gruppe und dann mit der anderen auseinandersetzen können, kommt es zu einem Austausch der verschiedenen Erfahrungen, der das gegenseitige Verständnis fördern kann.

 

Kritisches Denken und Widerspruchsgeist

Es ist jedoch nicht einfach, dauerhafte Änderungen bei Meinungen und Einstellungen bewirken zu wollen. Auf den Versuch zu argumentieren, wird erwidert: "Ja, aber trotzdem...". Wird eine Meinung moralisch beurteilt, wirkt dies oft abwertend auf die Person, die sie vertritt und versetzt diese in eine defensive Haltung. Wenn die Autoritätsperson Verhaltensweisen oder vorbildliche Meinungen vorschreibt, bewirkt sie nur eine oberflächliche Zustimmung. Die tiefen Überzeugungen und Einstellungen bleiben unverändert.

Mehr als ums Argumentieren geht es darum, Zweifel, kritisches Denken und Widerspruchsgeist zu fördern. Das keinesfalls neue Rezept lautet: Zuhören, Fragen stellen, reden lassen, statt fertige Antworten zu erteilen. Die Einteilung in "Gute" und "Schlechte" oder "Rassisten" und "Antirassisten" ist das Merkmal des moralisierenden Antirassismus, der zu keiner Haltungs- und Meinungsänderung der mutmasslichen "Rassisten" führt. Indem der Antirassismus die Rassisten verteufelt, bewirkt er das Gegenteil dessen, was er bezweckt, weil er den Zusammenhalt und die Überzeugungen der stigmatisierten Gruppe nur noch verstärkt. Ein Beitrag zu einer tiefgreifenden Änderung der Mentalitäten ist nur möglich, wenn man stigmatisierende Ansätze vermeidet, die die Abwehr verstärken.

"Man wird nicht als Rassist geboren, sondern man wird dazu gemacht. Und man kann aufhören, Rassist zu sein, wenn man es einmal war." (Pierre-André Taguieff, 1997, S. 88). Das Verhalten eines Akteurs ist nicht ausschliesslich durch seine Neigungen oder Veranlagungen zu erklären, sondern "der wesentliche Faktor einer rassistischen Einstellung oder Verhaltensweise ist die Situation".

 

Bilanz: Eine "Konfliktpädagogik"

Mit "Konfliktpädagogik" bezeichnen wir einen Ansatz, der die Existenz von Konflikten ausdrücklich anerkennt und als Ausgangspunkt für einen Lernprozess nutzt. Es handelt sich um eine Pädagogik, die Konflikte aufarbeitet.

  • Diese baut auf realen erlebten Konflikten auf, bezieht die unterschiedlichen Erfahrungen in der Gruppe ein. Sie vermeidet, die Positionen festzuschreiben und bezieht sich immer auf den sozialen und politischen Kontext.
  • Sie lässt den Ausdruck unterschiedlicher Standpunkte, Widersprüche, Zweifel und Ambivalenz zu oder fördert sie sogar.
  • Sie berücksichtigt, dass jede Person als Opfer anerkannt sein will, dass jede ihre Sicht der Dinge hat, dass man ihr Gehör schenken muss, selbst wenn man nicht damit einverstanden ist. Abstreiten ist fruchtlos.
  • Sie zeigt experimentell neue Handlungsperspektiven auf;
  • Sie stellt Fragen, regt zum Nachdenken an. Dies ist wichtiger als Antworten zu geben.

Das Zielpublikum identifizieren heisst auch, jede spezifische Erfahrung, die zum Prozess des Rassismus beiträgt, zu hinterfragen und die Erfahrungen ansprechen, die ein jeder in der Rolle des Opfers, Täters oder "bystanders" besitzt. Für die Opfer bedeutet dies vor allem, dass ihre erlittenen Kränkungen und Diskriminierungen anerkennt werden, dass sie ihre Würde und den ihnen zustehenden Status wieder erlangen und ihre Rechte verteidigen können. Für die Täter gilt es, sich ihrer Handlungen bewusst zu werden und ihre Verantwortung wahrzunehmen. Für die "bystanders" geht es darum, ihre Gleichgültigkeit oder ihr Ohnmachtsgefühl zu überwinden und ihre Verantwortung wahrzunehmen. Die Hauptaufgabe der antirassistischen Pädagogik betrifft vor allem die "bystanders". Ziel ist es, sie von unbeteiligten und ohnmächtigen ZuschauerInnen in aktive ZeugInnen zu bringen.

Fazit: Konfliktpädagogik richtet die Lernziele weniger auf die Aggressoren aus. Priorität hat die Anerkennung von widerfahrenem Rassismus und der Schutz der Opfer. Das Augenmerk ist stärker auf die "bystanders" zu richten. Wenn diese in einer konkreten Situation Einfühlung, Nähe oder Solidarität mit Diskriminierten zeigen, übernehmen sie ihre Verantwortung und zeigen klar ihre Position. Dies zwingt die Täter über ihre Handlung nachzudenken, ohne dass sie belehrt werden müssen.

 

Monique Eckmann ist Soziologin, Erwachsenenbildnerin und Dozentin am Institut d'Etudes Sociales in Genf. In ihren Forschungsarbeiten und Publikationen befasst sie sich mit Fragen zur Identität und mit antirassistischer, interkultureller und Friedenspädagogik. Sie ist Mitautorin der Neuerscheinung "Rassismus angehen statt übergehen" (siehe Unterrichtsmaterialien). Der obige Artikel ist erschienen in der "Zeitschrift für Friedenspolitik" 4/03.

 
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